
Die Lokomotive "ZORGE"
... von den Anfängen der Braunschweigischen Staatsbahn
und warum ausgerechnet der Ort ZORGE zur Geburtsstätte
der ersten "Dampfrösser" des Landes wurde.

Das Herzogtum Braunschweig war sehr daran interessiert, Lokomotiven auf eigenem Staatsgebiet herzustellen. Dies sollte in staatseigenen Betrieben in Zorge geschehen. So wurde 1837 auf dem Platz der alten Blechhütte (heutige Straße: In den Ellern 1 — 3) mit dem Bau einer Maschinenfabrik begonnen. Da bis zu diesem Zeitpunkt der Weg von Oberzorge nach Unterzorge über diesen Platz führte, mußte er nun aus Platzmangel auf die andere Seite des Zorgeflusses verlegt werden.
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Zum Leiter der Maschinenfabrik wurde der bisherige Formtischlermeister der Hütte, Heinrich Wildhagen, bestimmt, der als Maschinenmeister zunächst die notwendigen Werkzeugmaschinen beschaffte und dann den Betrieb nach seinen Plänen einrichtete. Um auf dem modernsten Stand der Technik zu sein, bezog man Drehmaschinen, Drillingsmaschinen, Hobelmaschinen und weitere im Wert von 8000 Thaler aus England (umgerechneter heutiger Wert = 250.000 euro).
Am 24. Oktober 1837 wurden Wildhagen und am 22. Februar 1838 Hütteninspektor Hoffmann die Reise nach England vom zuständigen Minister genehmigt, damit sie den Lokomotivbau an Ort und Stelle studieren konnten. Wildhagen hatte sich zuvor schon in Leipzig über die im Besitz der Leipzig-Dresdner Eisenbahn befindlichen »Dampfwagen« informiert, die in England erbaut worden waren.
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Bereits 1838 konnte die Produktion kleinerer Fabrikate in der neuerbauten Maschinenfabrik aufgenommen werden. Der erste größere Auftrag war die Herstellung von 100 Paar Rädern für die Leipzig-Dresdner Eisenbahn vom 2. Juni bis 2. Oktober 1839. Damit erwies sich die Maschinenfabrik schon im ersten Jahr ihres Betriebes als eine gute Einnahmequelle für den Braunschweigischen Staat.
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Im September 1839 war die Einrichtung der Maschinenfabrik soweit fortgeschritten, daß mit dem Lokomotivbau begonnen werden konnte. Wohl auch aus Mangel an geeigneten Fachkräften entschloß man sich, keine eigenen Lokomotivtypen zu entwickeln, sondern ein englisches Fabrikat nachzubauen. Dafür war die AnSchaffung einer Musterlokomotive notwendig. Im August 1838 kaufte Hoffmann im Auftrag der Staatsregierung zwei Lokomotiven und weitere Kleinteile im Wert von 3 746 englischen Pfund (= 14 500 Thaler) von der Firma Sharp, Roberts & Co in Manchester. Nach dem Kauf wurden die beiden Lokomotiven per Schiff von Liverpool nach Hamburg befördert, von dort gelangten sie auf dem Landweg nach Braunschweig. In Zorge traf jedoch nur eine der beiden von Sharp gebauten Lokomotiven des 1 A 1-Typs ein — die »Manchester«. Die andere war vermutlich umgehend bei der Staatsbahn in Braunschweig in Dienst gestellt worden. Der gesamte Transport war sehr zeitaufwendig, denn erst im Juni 1840 traf die »Manchester« in Zorge ein. Nachdem sie auseinandergenommen und genau untersucht worden war, konnte mit dem Nachbau begonnen werden. Mit dem Test der ersten Lokomotive wurden englische Fachkräfte beauftragt, auf die man später verzichtete.
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Bereits im Mai 1842 wurde die erste im Staat Braunschweig gebaute Lokomotive einschließlich Tender zum Preis von 13000 Thalern (heute umgerechnet 400.000 euro) aus Zorge an die Braunschweigische Staatsbahn geliefert. Der Transport erfolgte auf einem eigens dafür gefertigten Spezialrollwagen nach Bad Harzburg, wo der Endpunkt der Staatsbahnstrecke aus Richtung Braunschweig war.
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Hoffmann fuhr vom 2. August bis zum 5. September erneut nach England, um sich weitere Informationen zu beschaffen. Obwohl die Lieferung bereits im Mai erfolgte, soll nach Angaben vieler Quellen die Einweihung der ersten beiden gebauten Lokomotiven erst am 17. September 1842 in Zorge stattgefunden haben. Trotz dieser Unklarheiten wird ein Bericht wiedergegeben, der im »Harzer Echo« am 17. September 1932 anläßlich des »neunzigsten Jahrestages der Einweihung« über die damaligen Festlichkeiten veröffentlicht wurde:
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„Es war denn am 18. September 1842 der bedeutungsvolle Tag herangekommen. Es war an einem schönen Sonntag, an dem die ersten beiden vollendeten Lokomotiven geweiht werden sollten. Alt und jung war auf den Beinen, und aus den umliegenden Ortschaften waren gar viele gekommen um an dem Schauspiel teilzunehmen. Auf dem Fabrikhof war eine mit Tannen und Moos geschmückte Kanzel erbaut, die Wände der Fabrik waren mit Kränzen und Girlanden geziert. Vor den Häusern der Berg- und »Hüttenoffizianten« waren Tannenbäume in die Erde gesenkt. Die einzelnen Korporationen - die Berg- und Hüttenleute, Fuhr- und Zimmerleute, Tischler, Schlosser, Dreher, Schmiede - versammelten sich vor den Wohnungen ihrer Vorgesetzten. Dann ging es zur Kirche, wo der Pastor Körner in seiner Predigt die Bedeutung des Tages hervorhob und die erhebenden Gefühle in dem Gesänge: »Bis hierher hat mich Gott gebracht« ausklingen ließ. Nach dem Gottesdienst ging es mit Musik nach den Wohnungen der beiden höchsten Beamten - Oberhütteninspektor Hoffmann und Oberbergmeister Weichsel -, um die Fahnen der beiden Korporationen abzuholen. Dann zog das Ganze nach dem Fabrikhof. Hier hielten die beiden genannten Beamten, sowie der Pastor Ansprachen, wobei die Lokomotiven ihre Namen empfingen. Die erste wurde auf den Namen »Harzburg—Zorge«, die andere auf «Hackelberg« (Wilder Jäger) getauft. Danach ging es den Ort hinauf zum Schützenhaus. Jeder an dem Zuge Beteiligte wurde bewirtet. Es gab Schweine- und Rinderbraten, Kartoffelsalat, Brot, geschmorte Zwetschen und Birnen, Brantwein und Bier und freie Tanzmusik bis zum Montag Morgen.“
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Aus der Betriebsliste der Braunschweigischen Staatsbahn von 1850 wird ersichtlich: Die erste in Zorge produzierte Lokomotive wurde als Nr. 5 im Mai 1842 unter dem Namen »Zorge« in Betrieb genommen. Als zweite folgte die »Hackelberg« als Nr. 6 im Juli 1842. Als Nr. 9 ist die in Zorge erbaute Lokomotive »Harzburg« aufgeführt. Nach dieser Liste erfolgten keine weiteren Lieferungen an die Staatsbahn.
